Wie kommt das Influencer-Produkt in den Automaten?

Mit dieser und anderen spannenden Fragen befassen wir uns im Rahmen unseres Pilotprojektes myidea professional an der Berufsfachschule Uster. Dieses führen wir aktuell mit einer Testklasse Automatiker:innen im 3. Lehrjahr durch.

Zur Erinnerung: myidea ist ein Lernprogramm mit dem unternehmerische Kompetenzen in der beruflichen Grundbildung vermittelt werden können. Das Programm wird von ausgebildeten Lehrpersonen über mindestens 8 bis 9 Wochen durchgeführt. Dabei entwickeln die Lernenden in Zweierteams eigene Geschäftsideen. Bisher wurde myidea hauptsächlich im Allgemeinbildenden Unterricht (ABU) durchgeführt. Mit dem Pilotprojekt myidea professional wird nun die gemeinsame Umsetzung von myidea im ABU und Berufskundeunterricht (BKU) erprobt.

Unsere Berufslernenden im Bereich der Automation haben durch den Fokus auf Innovationen im technischen Bereich die Möglichkeit, ihr Wissen ganzheitlich zu vertiefen und die neuen Inhalte in einem ihnen bereits bekannten technischen Kontext zu erarbeiten. Sie bauen durch die Umsetzung von myidea in einer Kooperation zwischen allgemeinbildendem Unterricht und Berufskundeunterricht einerseits neue Fähigkeiten und Kompetenzen im Bereich unternehmerisches Denken und Handeln (UDH), andererseits auch in Bezug auf das kritische Denken und das Analysieren und Kommentieren von Lösungen auf. Gerade die Verknüpfung der neuen Kompetenzen ist eine wesentliche Quelle der Motivation und Inspiration. Es steht uns zur Entwicklung der Geschäftsidee ein ganzes Semester zur Verfügung, dies ist grossartig, da gerade die Entwicklung des Minimum Viable Products (MVP) eine technische Herausforderung darstellt, die den Lernenden wirklich Spass macht. Ein MVP ist eine erste funktionsfähige Version, die nur die notwendigsten Funktionen enthält und dazu dient ein Produkt oder eine Dienstleistung zu testen und Feedback einzuholen.

An der Berufsfachschule Uster (BFSU) haben wir unser Pilotprojekt so organisiert, dass in den drei Lektionen Allgemeinbildung die Grundlagen der myidea-Module aufgebaut werden. Der Nachmittag steht uns in der Berufskunde für das Coaching der technischen Entwicklungsprozesse der Geschäftsideen zur Verfügung. Wir führen jede Woche mit allen Gründungsteams Coaching-Gespräche durch. In der Berufskunde werden die technischen Umsetzungen von den Gründungsteams vorgestellt und kritisch reflektiert, die Ergebnisse aus den Gesprächen werden von den Lernenden protokolliert. Es ist für die Lernenden sehr wertvoll, die komplexen fachlichen Problemstellungen z.B. in der Elektrotechnik, der Robotik oder Holografie mit ihrer BK-Lehrperson mit dem passenden Netzwerk an Kontakten besprechen zu können. Diese professionelle Unterstützung gibt den Teams ein solides Fundament, welches Basis für zukünftige Projekte sein kann.

Im Bereich des technischen Englisch, einer weiteren berufskundlichen Komponente unseres Pilotprojektes, werden sprachliche Kompetenzen aufgebaut, welche die Lernenden befähigen sollen, ihre Entwicklungsschritte kritisch zu kommentieren. Im Zentrum steht das projektspezifische Vokabular, das freie Sprechen über die durchlaufenen Prozesse und das schriftliche Reflektieren der gewonnenen Erkenntnisse. Gerade in der Anfangsphase sollen kurze Medienbeiträge zu den Themen Kreativität, Innovation, Technologien immer wieder neue Impulse der Inspiration auslösen. Die Reflexion über das eigene Tun in einer Fremdsprache schafft die notwendige Distanz, um “von aussen” nochmals auf das eigene Produkt blicken zu können und ermöglicht so eine objektivere Betrachtung des Fortschritts. Zusätzlich bauen die Lernenden die Fachsprache Englisch weiter aus.

Ein weiterer Bereich, der sich nun zusätzlich eröffnet, ist die Umsetzung von myidea professional im Rahmen der Interdisziplinären Projektarbeit (IDPA) in einer Berufsmaturitätsklasse. Dieses Projekt konnte Anfang des Schuljahres gestartet werden. Die Lernenden haben nun ein Jahr Zeit, ihre eigenen Geschäftsideen zu entwickeln und die Erkenntnisse in der IDPA zu reflektieren und zu dokumentieren.

In beiden Klassen, sowohl bei den Automatiker:innen als auch bei der Berufsmaturitätsklasse, hatten wir bereits vor den Sommerferien zum kommenden Projekt informiert und die Lernenden so vorbereitet, dass sie sich im Vorfeld Gedanken zu spannenden Themenbereichen und Innovationen machen konnten. Einige Lernende hörten sich aus eigener Motivation während der Sommerferien aktiv im Lehrbetrieb um und brachten erste Denkansätze mit. So konnten wir im Unterricht mit der Methode des Trendings zielsicher die Themenbereiche lokalisieren, welche die Lernenden zur Entwicklung ihrer Geschäftsidee aufnehmen wollten.

Die MVPs befinden sich aktuell in der Entwicklungsphase und nehmen langsam Form an. Die einen Lernenden programmieren, andere zeichnen technische Schemata auf, und wieder andere bauen Prototypen und merken beim Testen, dass sie nochmals von vorne beginnen müssen, da die gewählten Bauteile nicht funktionieren. Die Lernenden erstellen zudem Umfragen zu ihren Produkten und nutzen die erhobenen Daten zur Verbesserung und Weiterentwicklung der Geschäftsidee. In einigen Projekten, z.B. der Entwicklung einer innovativen Hologrammbrille, ist der Erstellungsprozess technisch sehr komplex. Hier ist es wichtig, dass wir die Teams im Coaching immer mal wieder daran erinnern, dass nicht das perfekte Produkt, sondern das Prozesswissen im Zentrum steht. Bei der Umsetzung von myidea sollen die Lernenden kreativ und spielerisch an die Fragestellung herangehen. Sie dürfen im Prozess Fehler machen, es geht darum, dass sie diese lokalisieren und sinnvoll reflektieren lernen.

Im kommenden November werden drei Gründungsteams ihre Geschäftsideen im Rahmen der «Lernortkooperation» vorstellen. Die «Lernortkooperation» ist ein regelmässiger Event an der Berufsfachschule Uster, an dem sich Berufsbildende der Lehrbetriebe, Kursleitende aus überbetrieblichen Kursen und Lehrpersonen aus der Berufskunde zu Entwicklungen in der Berufslehre austauschen. Wir haben die Teams so ausgewählt, dass die Event-Teilnehmenden, einen Einblick in verschiedene Themenbereiche erhalten. Vorgestellt werden folgende Geschäftsideen: eine App im Bereich Lebensmittel für Allergiker:innen, eine Innovation im Bereich Transport und eine Innovation im Bereich Stromversorgung bei der Eventtechnik. Weiter wird ein Start-up-Unternehmer bei uns an der Schule über den eigenen Werdegang berichten. Unsere Lernenden werden so Gelegenheit erhalten, Fragen, welche sich zu den Rahmenbedingungen, den Hochs und Tiefs der Firmengründung, zum Geschäftsmodell und zur Entwicklung des MVPs ergeben haben, zu klären.

Im letzten September konnten wir als in myidea ausgebildete Lehrpersonen von einer inspirierenden Weiterbildung zum Thema Biases und kritisches Denken profitieren. Es ist verblüffend, wie selbst Lernende im technischen Bereich, die sehr logisch und strukturiert vorgehen, Denkfehlern unterliegen können. Ein aufschlussreiches Beispiel, welches ich mit meinen Lernenden durchgespielt hatte, ist folgende Denkfalle aus Dobellis Sammlung an Denkfehlern in seinem Buch «Kunst des klaren Denkens» von2020). Die Lernenden hatten die Aufgabe, aus der Zahlenfolge 2 – 4 – 6 die zugrundeliegende Regel zu bestimmen. Es war faszinierend, es wurden ausschliesslich positive Zahlen ab 6 genannt, das Testen ging also vorerst nur in eine Richtung. Danach versuchten die Lernenden komplexe mathematische Formeln zu entwickeln, welche auch nicht zielführend waren. Erst als niemand mehr weiterwusste, wurde zögernd der Vorschlag 5, dann −1 eingebracht und dann war auch die Regel klar: Die Zahl musste ganz einfach nur grösser sein als die letztgenannte Zahl. Das Beispiel zeigte den Lernenden sehr schön auf, dass das kritische Betrachten, aus verschiedenen Blickwinkeln heraus, das Hinterfragen, das “Umkehren” der eigenen Annahmen eine wichtige Grundkompetenz darstellt.

In unserer Pilotklasse zeichnet sich ab, dass neue Themenbereiche, wie zum Beispiel Trademarks, Patente, Lizenzen, Urheberrechte oder Betriebsgeheimnisse zum Programm hinzukommen werden.

Wir danken Prof. Susan Müller und Prof. Eveline Gutzwiller-Helfenfinger ganz herzlich für die wertvolle, tatkräftige Unterstützung bei der Umsetzung dieses Projektes!

Für das Team myidea professional BFSU (Martin Landolt, BK/IDPA, Matthias Furrer, BK/UDH, Marianne Puliafito, Allgemeinbildung/Englisch/UDH)

Marianne Puliafito